Liebe Anwesenden,
Vor rund 120 Jahren wurde in Tübingen schon einmal über die Zukunft dieser zentralen Fläche am Europaplatz gestritten und entschieden.
„Nun haben sich aber im Laufe der Jahre in Tübingen die Verhältnisse rasch geändert und der allgemeine Charakter unserer Stadt beginnt sich umzubilden, die Industrie soll angezogen und gefördert werden, und dadurch wird auch das Gesamtleben einen anderen Pulsschlag bekommen. Hand in Hand damit entwickelt sich natürlich auch die Baulust und Bautätigkeit, und gerade damit ist die Gefahr plötzlich nahegerückt, dass Bauunternehmer die damaligen Projekte der Stadt verwirklichen, den dem Verkehr so naheliegenden Teil der Stadt überbauen zu wollen.“ So schreibe nicht ich, sondern der ehemalige Stadtgärtner Ernst Schelle sage und schreibe um das Jahr 1901 und es klingt, als hätte er es für das Jahr 2025 geschrieben.
Ernst Schelle hat es damals schließlich mit der Unterstützung von engagierten Bürger*innen und des Bürger- und Verkehrsvereins geschafft, eine Bebauung am heutigen Europaplatz zu verhindern und hat Tübingen unter anderem den Anlagenpark geschenkt, der uns (mittlerweile deutlich verkleinert) immer noch zum Verweilen, Ausruhen, Spielen und Genießen einlädt.
Unter seinen Planungsunterlagen schreibt Ernst Schelle weiter:
“In der vorgeschlagenen Weise benützt, könnte das Gelände des mittleren Wöhrds für Tübingen in vielen Beziehungen zum Kleinod werden, das der Stadt nicht nur zu großer Zierde gereichen, sondern jetzt wie in fernen Zeiten” – und ich bin mir sicher er meint damit uns – “der ganzen hiesigen Bevölkerung als Erholungsstätte dienen würde. Möge Tübingen es verstehen, sich dieses Kleinod zu sichern!”
Und ob wir es verstehen, uns dieses Kleinod für uns alle als Stadtgesellschaft zu sichern, dessen bin ich mir angesichts der Debatte hier im Rat alles andere als gewiss.
Aber eines nach dem anderen.
Punkt 1 – der Verkauf
Die Verwaltung schlägt vor, bis zu zwei Drittel der Fläche zu veräußern. Ein Großteil dieser zentralen Fläche, die uns momentan allen gehört, soll also bald einigen wenigen gehören.
Was klar sein muss: auch wenn wir Rahmenbedingungen setzen und Konzepte entwerfen, es werden die zukünftigen Besitzer sein, die maßgeblich entscheiden, was dort gemacht wird. Die Besitzer werden uns Zugeständnisse und Kompromisse abverlangen, sei es bei der Gestaltung und Gebäudehöhe, sei es bei der Nutzung, sei es bei nachhaltigen, klimafreundlichen Baumaterialen, Fassenbegrünung, usw.
Wir unterstützen daher die Forderung von insgesamt 9 zivilgesellschaftlichen Gruppen, namentlich das Bürgerprojekt Zukunft, die BI Stadtpark Europaplatz, Fridays for Future, Scientists for Future, Parents for Future, Christians for Future, Teachers for Future, und die Grüne Hochschulgruppe Tübingen, dass diese Fläche in öffentlichem Besitz bleibt. Nur so kann gewährleistet werden, dass Gemeinwohl und ökologische Belange Vorrang haben.
Punkt 2 – der Kriterienkatalog der Stadt
Die Stadt hat sich – und das finden wir ausdrücklich gut – einen Kriterienkatalog zur Bewertung der einzelnen Varianten gesetzt. In Vorlage 81/2025 kommt dieser Katalog nur noch hier und da in willkürlich ausgewähten Vor- und Nachteilen der Varianten vor, die sich auch noch widersprechen.
Ein Beispiel aus der Vorlage:
Variante 1: Öffentlicher Freiraum/Parkanlage. Nachteile: Die Fläche bleibt im Eigentum der Stadt.
Variante 2: Markt- und Festfläche. Vorteile: Die Fläche bleibt im Eigentum der Stadt.
Variante 5: Hallenbad. Vorteile: Die Fläche verbleibt in öffentlicher Hand.
Auf unser Bitten wurde dann die Bewertungs-Matrix mit allen Kriterien (auch Unterkriterien) erstellt, diese ist leider nicht im Sitzungssystem hinterlegt, aber online abrufbar. Aber gleich wurde der Hinweis mitgegeben, die Verwaltung habe das mal in ein paar Minuten während einer Kaffeepause ausgefüllt und da könnte ja bei jedem was anderes rauskommen und es sei ohnehin sehr subjektiv.
Ganz ehrlich: warum setzen Sie sich dann diesen Kriterienkatalog als Maßstab, wenn Sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, diesen fachlich fundiert auszufüllen? Können wir angesichts der Bedeutung dieser Entscheidung nicht erwarten, dass hier sorgfältig bewertet und abgewogen wird?
Punkt 3 – die Erweiterung der Planfläche und die Vermischung von Verkehrs-, Frei- und Grünfläche
Während wir anfangs nur über die Fläche des alten ZOBs gesprochen haben (ca. 6000m2), wird seit kurzem über ein Plangebiet von 10000m2 gesprochen, innerhalb dessen (Zitat) “ca. 50 bis 60 % als Verkehrs-, Frei- und Grünflächen unbebaut bleiben würden.” Selbst in meiner „Klimaschutz-Bubble“ wurde das missverstanden als “50% der Fläche werden begrünt”. Diese “Verkehrs-, Frei- und Grünflächen” bestehen aber bereits zu großen Teilen aus Straßen, die wir für die Busse zum und vom ZOB benötigen. Parkplätze zählen ebenso dazu und es darf auch angenommen werden, dass die Gebäude entsprechende Wege bekommen. Das ist eine Verschleierungstaktik. Ein klares Bekenntnis zu mehr Stadtgrün sieht anders aus.
Zusammenfassend müssen wir leider feststellen, dass die Vorlage inhaltlich der Bedeutung dieser zentralen Fläche nicht annähernd gerecht wird und haben deshalb eine Vertagung beantragt.
Punkt 4 – Ökologie und Klimaschutz
Der Europaplatz ist eine der am stärksten hitzebelasteten Flächen Tübingens und das wird sich in den nächsten Jahren durch die Klimakrise massiv verschärfen. Statt die Versiegelung noch zu verstärken, brauchen wir eine radikale Neupriorisierung zugunsten von Grünflächen und Kühlung. Unser Änderungsantrag fordert daher mindestens 60 % Begrünung, 30 % zusammenhängendes Parkgebiet und einen Tiny Forest nach Miyawaki-Prinzip.
Ein Tiny Forest bietet – wie zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen – eine Vielzahl von Ökosystemdienstleistungen:
- Er verbessert die Luftqualität und reduziert Feinstaub,
- sorgt für Verdunstungskühle,
- fördert Biodiversität,
- speichert CO₂ und
- dient als Lern- und Begegnungsort.
Damit wäre der Europaplatz nicht nur ein funktionaler Stadteingang, sondern ein echter Klimaschutzbaustein – eine Antwort auf Hitzestress und Artensterben mitten in der Stadt.
Und die Aussage von Ihnen Herr Soehlke, dass die Fläche keinen nennenswerten Einfluss auf das Gesamteklima der Stadt habe und deshalb getrost überbaut werden könne finde ich sehr grenzwertig, gefährlich und auch persönlich enttäuschend. Denn mit dieser Begründung kann man künftig praktisch jede Maßnahme zur punktuellen Entsiegelung und Begrünung abschmettern. Wir wissen aber – und das wissen Sie ganz sicher auch – , dass jeder zusätzliche Baum, jede Wiese, jeder Strauch positive Effekte auf das lokale Mikroklima hat und zusammenhängende Grünflächen und Beschattungen durch Bäume natürlich die Gesamtwahrnehmung des Stadtraums hinsichtlich Hitzebelastung beeinflussen. Von der Fähigkeit der Wasserspeicherung und den positiven Effekten auf eine dramatisch schwindende Artenvielfalt auch bei uns ganz zu schweigen. Ganz ehrlich: dass Sie solche fadenscheinigen Argumente ins Feld führen müssen, um Ihre bevorzugte Variante zu rechtfertigen, ist ein Armutszeugnis.
Dasselbe gilt übrigens für die von Herrn Henzler vorgetragene Behauptung, die Schatten von hohen Gebäuden würden zur Kühlung beitragen. Also wirklich: für wie dumm halten Sie uns und die Bürgerinnen und Bürger? Wir sehen sehr wohl, dass andere Städte keine Gebäude gegen Hitze bauen, sondern großflächig entsiegeln und Bäume pflanzen.
Punkt 5 – Bürgerbeiteligung und Falsches Verständnis eines Bürgerrats
Bisher stützt sich die Stadtverwaltung auf eigene Einschätzungen und eine Beteiligung, die weder repräsentativ noch frei von Partikularinteressen ist – vermutlich haben weniger als 0,5 % der Bevölkerung teilgenommen. Ein Bürgerrat oder ein ähnliches Format könnte helfen, die tatsächlichen Bedarfe der Stadtgesellschaft fundiert zu ermitteln und externe Expertise einzubinden. Dabei muss auch die Frage des Flächenverkaufs noch einmal kritisch diskutiert werden, denn der Wunsch vieler Bürger*innen nach dauerhaftem städtischem Besitz wird in der aktuellen Vorlage kaum berücksichtigt.
Und eine Anmerkung in Richtung Herrn Zarnetta und Herrn Riethmüller, weil es da offenbar Missverständnisse zu den Befugnissen eines Bürgerrats gibt: ein Bürgerrat entscheidet eben nicht anstelle des Gemeinderats, sondern erarbeitet fundierte Empfehlungen, die als Grundlage für eine Entscheidung hier im Rat dienen. Und wenn Sie sich die Ergebnisse von Bürgerräten anschauen, dann sehen Sie dass diese eigentlich immer sehr ausgewogene, differenzierte und fundierte Empfehlungen abgeben.
Punkt 6 – Das vorgebrachte Argument Innen- vor Außenentwicklung
Wir teilen das Ziel, Innenentwicklung vor der Versiegelung neuer Flächen zu priorisieren. Aber hier wird das Argument missbraucht:
- Die Mischnutzungsvariante 7.2 schafft kaum bezahlbaren Wohnraum,
- dafür aber überdimensionierte Gewerbeflächen und möglicherweise Hotelnutzung,
- während gleichzeitig leerstehende Flächen in der Altstadt existieren.
Das ist keine nachhaltige Innenentwicklung, sondern ein Luxusprojekt, das weder den Klimazielen noch dem sozialen Bedarf dient.
Und liebe AL/Grüne: ich darf euch daran erinnern, dass Ihr für die Bebauung des Gebietes Strütle/Weiher in Pfrondorf gestimmt habt, wo jetzt artenreiche Streuobstwiesen und fruchtbare Tübinger Ackerflächen für immer verloren gehen. Also seid doch bitte so ehrlich und sagt doch gleich „wir sind für Innen UND Außenentwickung”.
Punkt 7 – Die wirtschaftliche Situation der Händler und die mögliche Konkurrenz
Wir wissen doch alle hier, dass viele Händler in der Altstadt ums Überleben kämpfen und sehen die leerstehenden Ladenflächen. Wenn wir jetzt eine neue Gewerbe- und Gastronomiezone am Bahnhof entstehen lassen, dann verschärft das die Konkurrenz und schwächt die Altstadt. Wollen wir wirklich, dass sich Filialketten am Europaplatz ansiedeln, während traditionelle Geschäfte in der Altstadt verschwinden? Und übrigens auch der Markladen gegenüber (die mail haben Sie ja auch bekommen) bangt um sein Überleben.
Mein Appell an alle anderen Fraktionen, aber vor allem an AL/Grüne: wenn Sie einen gewissen Grünanteil – 10, 20, 30, 40, 50, 60 oder auch mehr Prozent – auf dieser Fläche sehen wollen, dann bringen Sie diesen Vorschlag jetzt als Antrag ein.